Stummfilme als Impulsgeber für die zeitgenössische Pantomime
Ziele der Recherchearbeit
Die Leitfragen lauten:
• Was kann ich bei wichtigen Akteuren der Stummfilmzeit wie z. B. Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Harold Lloyd für meine künstlerische Weiterentwicklung als Pantomime lernen bzw. verwirklichen?
• Worin unterscheiden sich die beiden Darstellungsformen Pantomime und Stummfilm?
• Wie ist die wechselseitige Beeinflussung beider Genres zu bewerten?
• Wie stellt sich die Entwicklung des Stummfilms, sein Ende mit der Tonfilmzeit und der Beginn der populären Pantomime im Theater und der Kleinkunst dar?
• Welche Impulse lassen sich für die zeitgenössische Pantomime, wie von mir ausgeführt, aus den Stummfilmen ableiten?
• Wie kann ich neues aus den alten Motiven generieren?
Mein Ziel ist es, neue Inhalte für zukünftige Auftritte und Konzepte zu generieren.
Recherche
Die Recherche habe ich mittels Filmmaterial aus der Zeit des Stummfilms (Chaplin, Keaton, Snub Pollard, Fatty Arbuckle, Ben Turpin, Charley Chase oder Larry Semon) durchgeführt, um die Hintergründe besser kennenzulernen. Dazu habe ich diese analysiert, um hier deren Ästhetik systematisch für mein Training und weitere Improvisationen zu erschließen.
Ich habe außerdem mehrere online Interviews mit Kollegen gemacht, welche sich intensiv mit diesem Thema beschäftigen: Peter Mim, Jorge Costa, Alexander Neander, Wolfram von Bodecker. Die Interviews sind online einsehbar.
Ich habe die daraus erzielten Erkenntnisse in mein Training und in die Konzeption neuer, zukünftiger Auftritte einfließen lassen.
Ästhetik und Attitüde, Körperhaltung und Stellung als Symbole eines bedeutungsvollen Seelenzustandes oder Lebensmoments, haben in meiner Arbeit besondere Bedeutung gewonnen.
Chaplin und Pantomime
Bewegungskunst ist eine Art poetischer Staffellauf, welche von Generation zu Generation, von Künstler zu Künstler weitergetragen wird.
Max Linder schuf 1905 einen sehr kennzeichnenden Charakter (mit Schnurrbart und Zylinder), der Chaplin für seinen Charlot inspirieren sollte. Tatsächlich bezeichnete er Linder als seinen Lehrer.
Charlie Chaplin war eine Inspiration für viele Bewegungskünstler, ebenso wie Marcel Marceau.
Marceau entdeckt seine Leidenschaft zum Schauspiel, als er zum ersten Mal einen Stummfilm von Charlie-Chaplin sieht (https://taz.de/!579068/).
Marcel Marceau wiederum hat viele Menschen für die Pantomime begeistert und diese erst recht populär gemacht. Auch für mich war er eines der wichtigsten Vorbilder und kreativ-ideeller Lehrer.
„Obwohl der Tonfilm nun bereits fest etabliert war, brachte Chaplin mit Moderne Zeiten (Modern Times) 1936 noch einen weiteren Stummfilm in die Kinos. Er arbeitete aber mit Toneffekten, auch um die beliebten Tonfilme zu parodieren, denen Chaplin skeptisch gegenüberstand. Erst am Ende des Films singt der Tramp ein Lied in einer Phantasiesprache, wie als Beleg dafür, dass es keiner Worte bedarf, um eine Geschichte zu erzählen. Der Erfolg an den Kinokassen bestätigte Chaplins herausragende Stellung. Genau Pantomime und Stummfilm sind universell verständlich. Die Sprache der Schauspieler spielt keine Rolle. Das war das Hauptargument von Chaplin.“ (https://www.deutschlandfunk.de/urauffuehrung-vor-90-jahren-charlie-chaplins-mutig-stummer.871.de.html?dram:article_id=491708)
Pantomime ist die Muttersprache der Menschheit
“Warum mache ich immer wieder Stummfilme? Erstens ist der Stummfilm ein universelles Ausdrucksmittel. Auf der anderen Seite hat der Sprecher ein notwendigerweise begrenztes Feld, abhängig von den Sprachen der Länder, in denen es gemacht wird. Ich bin davon überzeugt, dass das Interesse an Stummfilm in Zukunft wieder zunehmen wird…
Ich betrachte den sprechenden Film als eine wertvolle Ergänzung zur dramatischen Kunst, ungeachtet ihrer Grenzen; aber ich betrachte es nur als Ergänzung, nicht als Ersatz. Sicherlich könnte es kein Ersatz für den Stummfilm sein, der in seinen knapp zwanzig Lebensjahren so bemerkenswerte Fortschritte wie die pantomimische Kunst gemacht hat. Schließlich war die Pantomime immer das universelle Kommunikationsmedium und existierte lange vor der Sprache als universelles Instrument. Die Pantomime funktioniert perfekt dort, wo Sprachen inmitten allgemeiner Unwissenheit kämpfen. Primitive Menschen verwendeten eine Mimiksprache, bevor sie ein verständliches Wort formulieren konnten.
Pantomime ist die Basis aller Formen des Dramas und bildet den Schlüssel des Films. …
Das Anheben einer Augenbraue, egal wie klein sie auch sein mag, sagt mehr als hundert Worte.
Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass Pantomime die erste Qualifikation des erfolgreichen Filmschauspielers darstellt. Der wirklich großartige Schauspieler muss ein vollendeter Pantomime sein“. (https://www.lanacion.com.ar/sociedad/charles-chaplin-la-comedia-muda-es-el-entretenimiento-mas-perfecto-para-las-masas-nid2108517 | Chaplin 1931)
Die meiste Zeit bekam Chaplin seine Lacher weniger wegen der Gags an sich oder wegen seiner Fähigkeit, sie in irgendeinem gewöhnlichen Sinn zu melken, sondern durch seine geniale Begabung für das, was man die Färbung nennen kann: die perfekte, ewig wechselnde Inszenierung seiner körperlichen und emotionalen Haltung zu einem Gag. (https://www.deutschlandfunk.de/slapstick-kino-eine-meditation-ueber-das-clowneske.1184.de.html?dram:article_id=399275)
Stummfilm
„Der Stummfilm war die Kunst, die Pantomime zu verbreiten, und der Tonfilm ist die Kunst, das Theater zu verbreiten.” Marcel Pagnol
Slapstick-Comedy und Pantomime können zum Teil als das bleibende Erbe des Stummfilms betrachtet werden.
Ich habe in diesem Vorhaben zum einen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Kunstarten untersucht und die Übertragbarkeit von Stilrichtungen erforscht.
Fest steht, dass beide Genres ohne Worte, jedoch mit aussagekräftiger Mimik und vielsagender Gestik kommunizieren.
Was in der Antike der römische Pantomime, der Interpellator, machte, wurde auf ähnliche Weise in der Verwendung von Zwischentiteln in Stummfilmen umgesetzt.
Beide sind als Kunst der “Gest” zu verstehen.
Schauspieler der Stummfilmzeit hatten übertrieben, um das Fehlen von Worten auszugleichen. Gespräche mussten tonlos dargestellt werden.
Um die fehlenden verbalen Ausdrucksmöglichkeiten erklären zu können, orientierte man sich zunächst an der Pantomime. Doch schon bald erkannte man, dass dieser Definitionsversuch wesentliche Merkmale der Pantomime im Bereich der Rhythmik und Stilisierung ignorierte. Für manche Autor*innen lag der Vergleich daher mit der/dem „tonlosen“ Theaterschauspieler*in näher.
„Es waren Bühnendarsteller, welche am Anfang im Film wirken. Sie führen zum Beispiel Gesten und Mimen viel stärker aus, als es vor der Kamera nötig wäre, da diese auf der Theaterbühne schwerer zu erkennen sind, als auf der Leinwand, wo der Film die Möglichkeit hat, jede Regung des Gesichts mithilfe von technischen Mitteln wie beispielsweise Close-Ups zu zeigen. Auch die Sprechweise, die auf der Bühne klar und deutlich artikuliert werden muss, wirkt im Film überzogen und unnatürlich.“ („Marcel Pagnol: Die Wechselbeziehung zwischen Theater und Film am Beispiel Marius“ | Laura-Melina Vogt | ISBN-13 : 978-3656849261)
In Stummfilmen muss der Großteil der Handlung sowie die Emotionen ausschließlich über „Bilder“ transportiert werden. Das Schauspiel der Akteur*innen dieser frühen Filme war aus diesem Grund meist sehr körperbetont. Gestik und Mimik der Schauspieler*innen wirken insbesondere in Dramen vom heutigen Blickpunkt aus oft übertrieben. Dies trifft auf die zeitgenössische Pantomime jedoch nicht zu.
„Interessant war zu beobachten, wie Buster Keaton mit kaum Gestik in Gesicht so viele Gefühle ausdrücken konnte. Es war dann sein Körper, der sprach. Es geht jedoch nicht um zufällige Bewegungen oder einen wahllosen Slapstick, sondern um eine perfekt synchronisierte gestische und rhythmische Symphonie, die chronometrisch angeordnet ist.“ (https://www.tiempodecine.co/web/buster-keaton-el-americano-impasible | Juan Carlos González A.)
In beiden Kunstformen sind nonverbale Ausgestaltungen von Slapstick über Komödie bis hin zu tragischen Inszenierungen möglich und üblich. In beiden Genres existieren darüber hinaus sehr unterschiedliche Stile, die stark von Persönlichkeit und Individualität der/des jeweiligen Künstler*in beeinflusst werden.
„Der „Verlust“ der Stimme bedeutete für die Schauspielkunst aber nicht nur neue Wege finden zu müssen, um sich – nur auf nonverbale Ausdrucksmittel gestützt – verständlich zu machen. Ebenso musste der Schauspieler erneut um künstlerische Anerkennung kämpfen, da sich die Zeitgenossen nicht einig waren, ob der Stummfilmdarsteller überhaupt ein Schauspieler bzw. darstellender Künstler war. Während die einen eine eindeutige Nähe zum Pantomimen erkannten, sahen die anderen einen Schauspieler auf der Leinwand, dem der Ton schlichtweg genommen wurde. Nur die wenigsten sprachen schon früh davon, dass die Filmdarstellung ein eigenständiger künstlerischer Beruf sein und sich deshalb von den Konventionen der Bühne lösen sollte. Von Ausnahmen abgesehen, wird in den untersuchten Stummfilmen jedoch nicht pantomimisch gespielt. Soll heißen die Figuren sprechen und sie gehen davon aus, dass sie in der Diegese des Films gehört und vom Kinopublikum verstanden werden. Was sie sagen, wird teils mittels Zwischentiteln kommuniziert, teils von den Lippen gelesen, teils ist es aus der Situation klar zu erschließen. War der Stummfilmdarsteller ein Pantomime, der das Wort gar nicht brauchte; oder ein Theaterschauspieler, den man nur nicht hören konnte; oder ein genuiner Filmkünstler, der die inhärente Tonlosigkeit des Mediums in sein Spiel integrierte und so eine neue Kunstform im darstellerischen Bereich schuf?
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Nur durch den Einsatz nonverbaler Ausdrucksmittel sollte der Schauspieler im Stummfilm das ausdrücken, was der Darsteller der Bühne mit Worten zum Ausdruck bringen konnte. Mimik und Gestik wurden daher als (einziger) Ersatz für das gesprochene Wort gesehen.“ (Die Pantomime im Film, Filmboten, 1925 | Oscar Geller)
Geller zufolge sei das „Primäre im Film“ das Optische und daher müsse die Pantomime Hauptbestandteil des Films sein. Die pantomimische Geste sei international verständlich, weshalb sie die einzige Sprache des Films sein dürfe: „Die pantomimische Geste ist die ursprünglichste und allgemein verständliche Ausdrucksform für menschliche Empfindungen des Gefühls. Sie ist so alt, wie die Menschheit selbst, und sie ist nicht, wie die Sprache, an die einzelnen Nationen und Grenzen gebunden, sie ist wahrhaft polyglott.“
Der Stummfilmschauspieler war laut Balázs also kein Pantomime, sondern nur ungewollt tonlos.
„Die Pantomime ist nicht nur für das Ohr, sondern auch für das Auge stumm. Keine stumme Kunst, sondern eine Kunst der Stummheit. Sie ist das Traumland des Schweigens. Der Film ist aber nur lautlos.“ (Bela Balázs)
„Dass der Film bis Ende der 1920er-Jahre stumm blieb, resultierte freilich nicht, wie bei der Pantomime, aus einer ästhetischen Intention, einem Stilwillen, sondern aus den eingeschränkten technischen Möglichkeiten. In diesem notgedrungenen Sprachverzicht (abgesehen von kurzen Zwischentexteinblendungen) konstatierten die Kritiker so auch ein erhebliches Defizit des Films gegenüber dem Theaterstück“ („Die literarische Pantomime“ | Hartmut Vollmer | ISBN 978-3-89528-839-5)
Den Stummfilm als Einheit gab es nicht. Gerade in der Stummfilmzeit entwickelten sich nicht nur unterschiedlichste Genres, sondern auch prinzipiell unterschiedliche Ästhetiken. Die einen Filmemacher sahen vor allem die Nähe zum gemalten Bild, andere zur Pantomime, und die filmischen Melodramen lehnten sich an die großen Opern an. Nur das Sprechtheater war etwas völlig anderes. Nirgends wurde das sichtbarer als bei der filmischen Adaption von Theaterstücken: Was auf der Bühne durch den Dialog vermittelt wurde, musste auf der Leinwand Bildaussage werden. So entwickelte etwa René Clair eine besondere Meisterschaft, den Dialogwitz von Boulevardkomödien durch filmische Gags zu ersetzen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Clair, https://www.stummfilm-magazin.de/922-zuercher-stummfilmfestival-vom-01-01-bis-15-02-2018.html Martin Girod.)
Filme
Auch nach Einführung des Tonfilms entstanden Filme, deren Handlung ganz oder teilweise ohne gesprochenes Wort vermittelt wird. Diese Filme sind keine Stummfilme im eigentlichen Sinn. Anders als beim echten Stummfilm handelt es sich dabei nicht um die Konsequenz des Fehlens der Tonspur (eines technischen Aspekts), sondern um das künstlerische Mittel der Verwendung sekundärer stummfilmtypischer Eigenheiten wie Schwarzweißfilm, Zwischentitel und pantomimische Elemente. (https://de.wikipedia.org/wiki/Stummfilm)
Hier sind ein paar Beispiele:
• 1958 Mein Onkel, Jacques Tati
• 1945 Kinder des Olymp (frz. Originaltitel Les enfants du paradis), Marcel Carné mit Jean-Louis Barrault
• 1971 Trafic, Jacques Tati
• 1976 Silent Movie, Mel Brooks. Pantomime Marcel Marceau sagt mit “Non!” das einzige gesprochene Wort im Film.
• 1995 Die Gebrüder Skladanowsky, Wim Wenders
• 1999 Juha, Aki Kaurismäki.
• 2005 The Call of Cthulhu, Andrew Leman
• 2006 Der die Tollkirsche ausgräbt, Franka Potentes
• 2011 The Artist, Michel Hazanavicius.
• 2012 A Silent Rockumentary, Jonas Grosch. Dokumentarfilm
Literatur
Chaplin: Sein Leben. Seine Kunst | David Robinson | ISBN: 3257225717
Pantomime: The History and Metamorphosis of a Theatrical Ideology | Karl Toepfer
Las mil caras del mimo | Javier de Torres | ISBN: 8424508394
Chaplin | José Carlos Mariátegui | ASIN : B08P1B3X26
Stummfilmdramaturgie: Erzählweisen des amerikanischen Feature Films 1917-1927 | Claus Tieber | ISBN: 9783643501868
The Comedy of Charlie Chaplin: Artistry in Motion (English Edition) | Dan Kamin | ASIN: B004KA9Y4O
Fuegos fugitivos: antología de artículos | Corpus Barga | ISBN: 9972462293
Schauspielen im Stummfilm | Anna Denk | ISBN: 3837648583
Interwiev
Alexander Neander und Wolfram von Bodecker
Interwiev
Jorge Costa über seine Arbeit als Chaplin. (auf Spanisch)